Geschichtliches

Die evangelische Christuskirche Görlitz-Rauschwalde wurde von Otto Bartning 1936/37 geplant. Bereits 1938 wurde die Kirche eingeweiht. Die Autorenschaft Bartnings, die meisterhafte architektonische Qualität und der originale Erhaltungszustand des Bauwerkes, rechtfertigen es, die Christuskirche als herausragende Görlitzer Bauleistung des 20. Jahrhunderts und als Kulturdenkmal von nationaler Bedeutung zu bezeichnen.

Vorbereitung


Nach dem 1. Weltkrieg nahm die Einwohnerzahl von Rauschwalde weiter zu. Im Jahre 1925 wurde die bis dahin selbstständige Gemeinde Rauschwalde mit 3063 Einwohnern in die Stadt Görlitz eingemeindet. Es entstanden weitere neue Wohngebiete und gewerbliche Standorte, das St. Carolus Krankenhaus wurde gegründet (1927). Eine großzügige Schulerweiterung, Straßenbahnverbindung zur Stadt (1921), ein zentrales Abwassersystem und der Bau von Stadtstraßen waren notwendige Folgen dieser Entwicklung. Für das Jahr 1938 wird die Zahl der Evangelischen Gemeindeglieder mit etwa 4000 angegeben.
Zur Wende des 19./20. Jahrhunderts wohnten in dem Dorf Rauschwalde etwa 800 Einwohner evangelischer Konfession, deren Zahl sich nach der Eröffnung des Güter- und Rangierbahnhofes in Schlauroth bis 1914 um weitere 1500 Gemeindeglieder erhöhte. Ab dieser Zeit setzte verstärkt der Wandel ein, welcher das landwirtschaftlich geprägte dörfliche Anwesen Rauschwalde zu einem städtischen Vorort von Görlitz formte – eine Entwicklung, die sich bis in die Gegenwart hinein fortgesetzt hat.

Mit der anwachsenden Zahl der Gemeindeglieder waren auch Veränderungen im kirchlichen Bereich verbunden. Im Jahre 1915 wurde die eigenständige Evangelische Kirchengemeinde Rauschwalde begründet. Damit endete die seit 1835 bestehende Zugehörigkeit von Rauschwalde zum Kirchspiel Kunnerwitz. In den Jahrhunderten zuvor –von 967 bis 1835 - gehörte Rauschwalde zum Kirchspiel Jauernick.

Im Jahre 1913 wurde auf dem neu angelegten Rauschwalder Friedhof eine Friedhofskapelle errichtet, die der Gemeinde auch für Gottesdienste zur Verfügung stand. In den Jahren 1908 und 1910 schenkte der Bauer Gustav Richter der Kirchengemeinde das Baugrundstück am jetzigen Diesterwegplatz mit der Zweckbestimmung eines Kirchenneubaues. Auf Grund der schwierigen Zeitumstände bestanden zunächst keine Aussichten, den Kirchenbau weiter vorzubereiten. Die gottesdienstliche Nutzung der Friedhofskapelle, die noch 1934 erweitert wurde und einen Glockenturm erhielt, konnte wegen der zu geringen Größe, der abgelegenen Lage und nicht zuletzt wegen des Charakters einer Begräbniskirche nur eine Übergangslösung bleiben.Um die seelsorgerische Betreuung aller evangelischen Gemeindemitglieder zu verbessern, trat wieder der Wunsch nach einem Kirchenneubau in den Vordergrund. Die ab etwa 1925 ausgeführten Planungen und Überlegungen schwankten zwischen Gigantismus (800 Sitzplätze, 250.000 RM) und kostspieligem Provisorium (Baracke, 150.000 RM). Dem Realitätssinn des Gemeindepfarrers Friedrich Bernewitz (bis 1932) ist es zu verdanken, dass keine überstürzten Maßnahmen ausgelöst wurden.

Kurt Graetz, der 1932 Gemeindepfarrer von Rauschwalde wurde, war es vergönnt, den so lange beabsichtigten Neubau endlich durchzusetzen. Er war es, der mit großem persönlichen Engagement alle Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen verstand. Karfreitag, dem 30. März 1934, wurde die Schaffung des Kirchenbaufonds beschlossen, da –außer dem Baugrundstück- kein Kapital vorhanden war. Ziel des Fonds war es, die finanzielle Grundlage für den Bau zu schaffen. 1935 gründete sich der Kirchenbauverein, der die Aufgaben der Bauherrschaft wahrnahm.

Der Architekt

Die Gemeinde wurde seit Mitte der 1920er Jahre vom Breslauer Architekten Hermann Wahlich betreut, der bereits umfangreiche Pläne für einen Kirchenneubau erarbeitete und die die Zustimmung der Gemeinde fanden. Diese Zusammenarbeit fand durch den plötzlichen Tod des Architekten ein jähes Ende. Erst daraufhin wurde der damals schon sehr bekannte Architekt Prof. Dr. h. c. Otto Bartning aus Berlin mit der Planung der Rauschwalder Kirche beauftragt.

Otto Bartning (1883-1959) gehört zu den Protagonisten der modernen Architektur in Deutschland. Nach seinem Studium in Karlsruhe und Berlin arbeitete er von 1906 bis 1928 als freier Architekt in Berlin. Er war Mitglied des Deutschen Werkbundes, im Arbeitsrat für Kunst und wirkte als Lehrmeister am Bauhaus Weimar. Von 1926 bis 1930 leitete Bartning die Staatliche Hochschule für Baukunst, Bildende Künste und Handwerk in Weimar, worauf sein Professorentitel zurückzuführen ist.

Berühmtheit erlangten Bartnings expressionistische Architekturentwürfe und Bauten der 20er Jahre, insbesondere die Pläne zum Bau einer Sternkirche (1922). Das Modell der Sternkirche wurde nie verwirklicht, jedoch wurde 1930 eine Variante mit der Auferstehungskirche in Essen realisiert. Dort versuchte Bartning, Räumlichkeiten für Gemeindeveranstaltungen eng mit dem Gottesdienstraum zu verknüpfen. So erlaubten Faltwände unter den Emporen das Zuordnen und Trennen von Gemeinderäumen. Eine Weiterentwicklung seiner architektonischen Vorstellungen erfolgte 1928 durch eine in Montagebauweise aus Glas und Stahl erstellte Ausstellungskirche in Köln.

Otto Bartning baute nach 1945 im Rahmen des Notkirchenprogramms der Evangelischen Kirche (1947-49) 48 Notkirchen in Serie als Ersatz für im Krieg zerstörte Kirchen auf. Der erste Bau dieser Art entstand mit der kriegszerstörten Kasseler Zionskirche, die unter Leitung von Prof. Bartning im Baukastensystem aus vorfabrizierten Elementen errichtet wurde. Durch die Variation zweier Grundtypen und den hohen Eigenleistungsanteil der Kirchengemeinden (Fundamente, Umfassungsmauern und Inneneinrichtung) entstanden insgesamt 48 dennoch individuell geprägte Kirchen. Bartning war führend am Wiederaufbau deutscher Städte beteiligt, u.a. von Berlin (West), wohin er 1956 als Berater für die städtebauliche Neuordnung berufen wurde. Große Bekanntheit erlangte der von Bartning seit 1952 geleitete Wiederaufbau der zerstörten Insel Helgoland.

Neben evangelischen Kirchenbauten schuf Bartning zahlreiche Privatbauten. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatte er Wohn- und Geschäftshäuser in Hamburg, Düsseldorf und Berlin errichtet. In der Zeit der Weimarer Republik entwickelte er zahlreiche Projekte für Industrieanlagen, Verwaltungsbauten, Krankenhäuser und Wohnsiedlungen.

Planung und Bau

Bartning begann Ende 1936 mit den Entwürfen zur Rauschwalder Kirche. Die neuen Entwürfe knüpften nicht an die Planungen seines verstorbenen Vorgängers an. Während Wahrlich noch 600 Plätze in der Kirche unterbringen musste, reduzierte sich die Aufgabe für Bartning auf 420 Plätze.

Die Planungen schritten rasch voran, mit Datum vom 03.05.1937 (Eingangsdatum 14.05.1937) wurde der von Bartning ausgearbeitete Bauantrag für die neue Evangelische Kirche in Rauschwalde bei der zuständigen Ortspolizeibehörde eingereicht.

Auf die Gegebenheiten des Baugrundstückes mit seinem direkten Bezug zur offenen Landschaft und der den Hintergrund dominierenden Landeskrone ging Bartning auf kirchenbaulich unkonventionelle Weise ein: er richtete das Kirchenschiff in Nord-Süd-Richtung aus. Die Lage der Kirche verleiht dem Platz eine räumliche Abgeschlossenheit und bindet das Bauwerk in die umgebende Landschaft ein.Als weithin sichtbares Merkmal wurde der Glockenturm in der Art eines freistehenden Campanile errichtet. Während die rückseitige Westfassade fensterlos und mit mächtigen Strebepfeilern plastisch gliedert ist, wirkt der langgestreckte Bau zur Straße hin mit seinen durch Pultdächer gegliederten Fensterbändern offen und einladend.

Kurz nachdem der Bauantrag eingereicht wurde, forderte die Bauaufsichtsbehörde die Errichtung eines Luftschutzkellers auf Grundlage des Luftschutzgesetzes, welches erst am 04.05.1937 in Kraft trat und im engen Zusammenhang mit den deutschen Kriegsvorbereitungen stand. Nach diesem Gesetz war für jeden Neubau ein Luftschutzraum gefordert.

Von dieser Forderung waren Gemeinde und Architekt völlig überrascht, da das Vorhaben auch mit den zuständigen Behörden im Vorfeld abgestimmt wurde. Pfarrer Graetz, der die Gefahr eines Scheiterns befürchtete, erhob heftigen Widerspruch. Insbesondere führte er die finanziellen Folgen und den Umstand, dass die angeführte Bestimmung erst nach Einreichung des Bauantrages in Kraft getreten sei, an. Vorsichtig stellte er auch den Sinn eines Schutzraumes unter der Kirche in Frage.

Pfarrer Gratz konnte zwar keine vollständige Rücknahme erreichen, jedoch ließ sich das zuständige Luftschutzkommando Berlin zu einem Kompromiss mit in einem deutlich verkleinerten Luftschutzkeller für 100 Personen bewegen.

Der Bau des Luftschutzkellers zog umfangreiche Änderungen gegenüber dem ursprünglichen Entwurf nach sich. Erwähnt werden soll die erfolgte Höherlegung des Kirchenbaues, der zur Anlage der sechsstufigen Treppenanlage geführt hat, da aus Kostengründen der Keller nicht in vollständiger Tiefe im Erdreich liegen sollte.

Ein weiteres neu hinzugekommenes Problem entstand auf Grund der Bestimmungen des Ende 1936 erlassenen „Vierjahresplanes“, der ebenfalls als ein Instrument der Vorbereitung der deutschen Wirtschaft auf Kriegsbedingungen anzusehen ist. Entsprechend dieses Gesetzes wurde die Bausumme für derartige Bauten auf 63.000 RM begrenzt. Die Kostenberechnung Bartnings ergab jedoch eine zu erwartende Gesamtbausumme von 90.000 RM (+ 6.000 RM für den Luftschutzkeller). Obwohl die Finanzierung im wesentlichen gesichert war, mussten daraufhin umfangreiche Einsparungsvorschläge von Bartnings Büro ausgearbeitet werden, wobei sogar erwogen wurde, auf den Bau des Kirchturmes in voller Höhe zu verzichten.

Letztlich fand sich keine zufriedenstellende Lösung, so dass der Bau ohne gravierende Einschränkungen begonnen wurde. Das Problem löste sich jedoch, als im November 1937 neue Bestimmungen erlassen wurden, nach denen keine Kostenobergrenze mehr einzuhalten war sondern lediglich eine Stahlmengenbegrenzung gefordert wurde. Erleichtert stellt Pfarrer Graetz fest, dass –obwohl die Menge überschritten wurde- hier „niemand etwas wegnehmen kann, da der Stahl in den Turmfundamenten eingebaut war“.


Die geplante Turmuhr, die mit Glockenspiel ergänzt werden sollte, konnte aus Kostengründen nicht ausgeführt werden. Obwohl sich die in der Weihefestschrift von Pfarrer Graetz ausgesprochene Hoffnung, dass die Turmuhr zum 25jährigen Kirchenjubiläum nachgeholt sein solle, nicht erfüllt hat, ist die Turmuhr auf andere Weise allgegenwärtig: Das Kirchensiegel der „Evangelischen – Christus –Kirchengemeinde“ zeigt die Ansicht der Kirche mit der geplanten Kirchturmuhr.
Bartning wünschte, die Kirche nach außen mit einem dünnen Schlämmputz zu verputzen, um die Wirkung des Ziegelmauerwerkes nach außen zu erhalten. Dieser Vorschlag wurde von der Gemeinde nicht angenommen. Bartning musste sich dem Wunsch des Bauherren fügen und die Kirche mit einem Kellenwurfputz versehen, wodurch eine mehr malerische und weichere Einbindung in die Umgebung erzielt wurde. (Nach Aussagen des Pfarrers war Bartning nach Abschluss der Arbeiten dann doch zufrieden).

Demgegenüber sollten ursprünglich die Innenwände verputzt werden. Die veränderte Ausführung – weiß übertünchtes Ziegelmauerwerk – trägt wesentlich zu der feierlichen Stimmung im Kircheninnenraum bei. Ebenfalls abweichend von der Ursprungsplanung (Biberschwanzdachziegel) wurden die Dachflächen des Kirchenschiffes mit Hohlpfannendachziegeln gedeckt, die der Dachfläche eine größere plastische Wirkung verleihen.

An diesen Beispielen wird der prozesshafte Charakter des Bauens und die schöpferische Rolle deutlich, die einem aufgeschlossenen Bauherren zukommen kann.

Der Bau wurde vom Görlitzer Baumeister Franz Grunert ausgeführt. Der Gemeindekirchenrat verzichtete auf die Einholung weiterer Angebote, da er „voll und ganz“ dem Baumeister Grunert vertraut hat – ein bereits zur damaligen Zeit seltener Vorgang.

Der Baubeginn war am 10.06.1937, die Grundsteinlegung erfolgte am 09.05.1937, das Richtfest wurde am 11.09.1937 begangen und die Einweihung erfolgte am 17.Juni 1938.

Der Name der Kirche geht auf den Wunsch einer aus Posen stammenden „armen alten Witwe“ zurück, welche sich an die in ihrem Heimatdorf befindliche Christus – Kirche erinnerte. Der Vorschlag wurde vom Gemeindekirchenrat 1935 einstimmig angenommen, besonders auch, um ein deutliches Zeichen in einer schwierigen Zeit zu setzen. Auf Grund der immer feindseliger werdenden nationalsozialistischen Kirchenpolitik sah sich die Gemeinde mit immer neuen Schikanen und Hindernisse konfrontiert, die aber alle durch das Geschick von Pfarrer Graetz abgewendet werden konnten. Nicht ohne Grund spricht Pfarrer Graetz bei der Einweihung davon, dass bei Verzögerung der Grundsteinlegung um nur 3 Monate der Bau in dieser Größe und Schönheit nicht mehr möglich gewesen wäre. Die Görlitzer Christuskirche gilt als letzter vollendeter Kirchenbau in Deutschland vor dem Ende des 2. Weltkrieges.

Gegenwart

Die Autorenschaft Bartnings, die meisterhafte architektonische Qualität und der originale Erhaltungszustand des Bauwerkes, rechtfertigen es, die Christuskirche als herausragende Görlitzer Bauleistung des 20. Jahrhunderts und als Kulturdenkmal von nationaler Bedeutung zu bezeichnen.
Die Christuskirche, die bereits bei der Weihe als „Werk aus einem Guß“ gerühmt wurde, ist ein in allen Einzelheiten aufeinander abgestimmtes Gesamtwerk.

Obwohl sich die Bebauung im Stadtteil Rauschwalde bis in die Gegenwart weiter verdichtet hat und inzwischen einen weitgehend geschlossenen städtebaulichen Eindruck macht, ist die Christuskirche in Rauschwalde eine der wenigen Bauwerke geblieben, von denen eine dominierende, stadtteilprägende und identitätsstiftende Wirkung ausgeht.

Quellen

Chronik der Ev. Kirchengemeinde Rauschwalde
Festschrift „Einweihung der Christuskirche“, Görlitz 1938
Bauakte 8170, Bauaktenarchiv beim Bauaufsichtsamt der Stadt Görlitz
Verwaltungsbericht der Stadt Görlitz 1914 bis 1927
„Das Berliner Mietshaus 1945-1989“, Geist/Küvers, München 1989
„Otto Bartning- Materialien zum Werk des Architekten“, Bredow/Lerch, Darmstadt 1983

Text

Mit freundlicher Genehmigung von Dipl.-Ing. Christian Wünsche